Weil es mir Freude macht.
Dirk Addicks steht mitten im Leben, im Beruf. Er hat Mathematik studiert; heute leitet er eine IT-Abteilung in einem Versicherungskonzern. Er hat Familie, lebt in Stuttgart, arbeitet in München. Das Ehrenamt suchte er sich in München: Dirk Addicks ist Hospizbegleiter im ambulanten Dienst beim Christophorus Hospiz Verein in München. Im Schnitt begleitet er jedes Jahr zwei sterbende Menschen. Seine kürzeste Begleitung dauerte zwei Monate, die längste ein Jahr. Zwischen zwei Begleitungen nimmt Addicks eine längere Pause. Dirk Addicks liebt Lyrik, moderne Kunst und neue Musik. Sport interessiert ihn nicht. Zurzeit lernt er Persisch und Türkisch, um Prosa und Gedichte im Original zu lesen.
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Fünf Beine im Gleichgewicht
Warum ist Dirk Addicks Hospizbegleiter? Langweilige Frage, findet er: Die stellen doch alle. Genau. Hilft also nichts, was alle wissen wollen, das müssen wir fragen. Dirk Addicks entwirft ein Bild: „Ein normaler Stuhl hat vier Beine. Bürostühle mit Rollen haben eines mehr. So stehen sie besonders fest. In meinem Leben habe ich auch fünf `Beine´: Familie, Beruf, Freunde, Hobbys – und als fünftes das soziale Engagement. Sie halten sich gegenseitig im Gleichgewicht.“ Gute Antwort. Interessante Idee, das mit dem Gleichgewicht. Aber soziales Engagement: Das könnte auch ein Lernprojekt mit Kindern sein. Oder etwas mit Tieren. Warum ein Thema, um das sich die meisten Menschen ganz weit herumdrücken: das Sterben?
Dirk Addicks holt tief Luft und dann ein wenig weiter aus, bis an die Wurzeln seines sozialen Engagements. Er leistete Zivildienst, betreute MS-kranke Menschen, war in der Friedensbewegung aktiv; später, als er Vater wurde, organisierte er einen privaten Kindergarten mit anderen Eltern. Irgendwann mochte er keine Grundsatzdiskussionen über Kindererziehung mehr führen. Sich für andere einsetzen wollte er weiterhin. Er überlegte: „Was kann ich, was traue ich mir zu?“, und guckte sich ein Hospiz an. Dort fühlte er sich sofort und vollkommen richtig. 2011 begann er mit der Ausbildung zum Hospizhelfer; seit 2013 ist er ehrenamtlicher Hospizbegleiter beim Christophorus Hospiz Verein München. Heute, in seinem fünften Jahr im Ehrenamt, sagt er: „Sie sollten besser fragen, warum ich immer noch dabei bin!“ Und gibt gleich die Antwort: „Weil es mir Freude macht.“
Das einzige, was ich zu den Menschen mitbringe, bin ich selbst
Freude strahlt Dirk Addicks in der Tat aus. Nicht diese Freude, die sich über den Gesprächspartner zu stülpen versucht. Eher eine zurückhaltende Freude, an der man teilhaben kann oder auch nicht – ganz, wie man mag. Er verbreitet Ruhe und Gelassenheit. Und er hat Zeit. Jede Menge Zeit, jedenfalls hier und jetzt; als das Gespräch die Zweistundenmarke erreicht, guckt er noch immer nicht auf die Uhr. Ruhe, Freude, Zeit, das sind die Pfunde, mit denen Addicks wuchert. „Das Einzige, was ich zu den Menschen mitbringe, bin ich selber.“
Wenn er schwerkranke Menschen zum ersten Mal besucht, erschrecken viele. Das ist den meisten klar: Wenn der Hospizbegleiter kommt, beginnt die allerletzte Lebensphase. Der erste Schritt, um gemeinsam den Schrecken zu überwinden, ist oft eine einfache Frage. Dirk Addicks fragt nicht, „Wie geht es Ihnen“, sondern: „Wie geht es Ihnen heute?“ Damit grenzt er den Raum ein, der für den sterbenden Menschen noch zählt. Das Hier und das Heute. Und genau hier und heute geht es ihm vielleicht ganz gut. Vielleicht sind heute die Schmerzen erträglich. Vielleicht fließt der Atem leichter als gestern. Und wenn das so ist: Warum nicht den Tag pflücken und in den blauen Himmel gucken? Warum nicht ein Gedicht lesen, ein Lied singen, einen Teller Suppe löffeln und spüren, wie gut sie schmeckt? Warum nicht herausfinden, was es auch ganz am Ende eines Lebens noch zu entdecken gibt?
„Ich frage nicht: `Wie geht es Ihnen?´, sondern: `Wie geht es Ihnen heute?´“
„Es ist nicht wirklich schwer, mit Sterbenden zu sprechen“, sagt Dirk Addicks. Zuhören, Verstehen und Verständnis signalisieren – das sogenannte „Spiegeln“ – üben angehende Hospizbegleiter in ihrer Ausbildung. Addicks möchte die Menschen, die er begleitet, zu einer Erkenntnis führen: „Mir passiert jetzt etwas Besonderes und das ist nicht nur schlecht.“
Anders als die meisten Menschen hofft Addicks nicht auf einen schnellen Tod. „Ich wünsche mir nicht, dass ich eines Tages einen Infarkt habe und tot umfalle. Ich möchte das auskosten, Abschied nehmen von mir selbst. Mein Leben bewusst abrunden.“ Die Chance, das eigene Leben noch einmal im Gesamten zu betrachten und sich dann verabschieden, vom Leben, von den Liebsten, von sich selbst: Das ist es, was Addicks unter „nicht nur schlecht“ versteht. Und auch: die Erledigungslisten vergessen und den Rest betrachten, gute und schöne Momente genießen, jetzt, wo einerseits die Zeit sich dem Ende zuneigt und andererseits, gleichsam entpflichtet von Beruf, Haushalt und Alltagskram, sich alle Zeit der Welt auftut.
Das Wichtigste ist: Jemand ist da
Bevor Dirk Addicks einen kranken Menschen besucht, geht er dreimal um den Block, um sich zu sammeln. Dann schaltet er sein Handy aus und klingelt an der Tür. Was danach passiert, liegt ganz beim Klienten. „Ich bin ein weißes Blatt“, sagt Addicks, „das der Sterbende beschreiben kann.“ Manche Menschen möchten reden, andere in den Garten gehen. Manche stehen vor schweren Entscheidungen: noch eine belastende Chemotherapie – ja oder nein? Addicks gibt keine Ratschläge, sondern fächert die Möglichkeiten auf und bestärkt die Menschen, ihre eigene Entscheidung zu treffen. Eine alte Dame genoss das Gefühl, dass ein netter jüngerer Mann zu Besuch kam, einfach so und gerne, zum Kaffeetrinken und Plaudern. Mit einem körperlich und geistig behinderten Mann guckte Addicks Bud-Spencer-Filme und „Schwarzwaldklinik“, Woche für Woche dieselben Folgen. Sie lachten viel. „Das Nonverbale zählt“, findet Dirk Addicks. „Man kann reden, diskutieren, auch schwierige Themen besprechen. Aber das Wichtigste ist: Jemand ist da.“
Und ja, oft sitzt der Hospizbegleiter am Bett eines Menschen und ist einfach nur da. Wenn der Mensch nicht mehr sprechen kann oder nicht mehr möchte. Ab und zu guckt Dirk Addicks nach, ob der Mensch dort neben ihm gut liegt; wenn nicht, bewegt er ihn ein wenig, bis sich die angespannten Glieder lockern. Wenn der sterbende Mensch es möchte, hält er seine Hand. Sonst hängt er seinen eigenen Gedanken nach. Ein Buch lesen? Nein. Es sei doch auch geschenkte Zeit für ihn: zwei Stunden nichts tun und die Gedanken schweifen lassen.
„Ich wünsche mir nicht, dass ich eines Tages einen Infarkt habe und tot umfalle. Ich möchte das auskosten, Abschied nehmen von mir selbst. Mein Leben bewusst abrunden.“
Nicht weggehen. Egal, was passiert
Wo Menschen sterben, kann großer Frieden herrschen, auch Fröhlichkeit. Und ebenso überwältigender Kummer, den man nicht wegtrösten kann. Es gibt unbeschwerte Momente und solche voller Schmerz. Es gibt Angehörige, die gemeinsam mit dem Sterbenden Abschied nehmen, die letzten Wochen und Tage dankbar erleben. Es gibt Ehefrauen, Partner, Kinder, die unter der Last der Sorge und Verzweiflung zusammenbrechen. Doch egal, was geschieht, egal, wer Dirk Addicks begegnet: „Ich gehe nicht weg. Egal, was passiert: Ich gehe nicht weg. Man kann nicht immer viel machen. Man bleibt einfach, auch, wenn die Freunde sich zurückziehen.“
Dabei grenzt er sich eindeutig ab. „Wenn ich in eine Familie komme, mache ich klar, was ich tue und was ich nicht tue. Und ich grenze mich eindeutig ab: Ich bin nicht der Freund der Familie. Ich bin diese paar Stunden jede Woche hier und dann gehe ich wieder.“
Wenn ein Mensch gestorben ist, nimmt Dirk Addicks Abschied. Ist der Verstorbene aufgebahrt, setzt er sich noch ein letztes Mal an seine Seite, hält noch einmal seine Hand. Oder er nimmt an der Beerdigung teil. „Dann habe ich das Gefühl: Das ist jetzt gut. Und dann ist die Begleitung für mich abgeschlossen.“
An manche Menschen erinnert er sich gern und oft zurück. Zum Beispiel an die ältere Dame, die einzige Frau übrigens, die Addicks je begleitet hat. „Ich habe sie einmal abends besucht und sie hat mir gesagt: `Dirk, wenn ich dann tot bin, dann schaue ich vom Himmel runter und winke dir.´ In der Nacht darauf ist sie gestorben. Wenn ich heute zum Himmel hinaufgucke, dann denke ich an sie.“
Hat das Ehrenamt ihn verändert? „Meine Frau hat mich genau beobachtet und findet das nicht“, antwortet Dirk Addicks. „Was ich tue, ist für mich ein guter Gegenpol zu dem, was man sonst so im Leben hat. Deshalb möchte ich auch nicht in der Organisation arbeiten und zum Beispiel Schulungen halten. Ich möchte weiter zu den sterbenden Menschen hingehen.“
Tipp: Wer kann Hospizbegleiter werden?
Wer kann Hospizbegleiterin oder Hospizbegleiter werden? Dirk Addicks findet: „Das Wichtigste für Hospizhelfer ist: Man muss mit sich selbst im Reinen sein, was das Sterben betrifft. Die Ausbildung und die Arbeit in der Hospizbegleitung sind weder Therapie noch Selbstfindungs-Trip.“ Sein Tipp: einfach den Grundkurs besuchen und reinschnuppern. Gemeinsam mit dem Hospizverein finden Sie heraus, ob die Hospizbegleitung das Richtige für Sie ist.
Hintergrund: Wer begleitet wen?
Vor jeder Begleitung wird abgewogen, welche Klienten und Hospizhelfer gut zueinander passen könnten. Dirk Addicks ist Hospizhelfer im ambulanten Dienst; er begleitet Menschen in ihrem Zuhause. Werden sie in ein Krankenhaus oder Hospiz verlegt, besucht er sie auch dort. Für ihn sind kurze Wege zum Wohnort wichtig. Ob er eine Frau oder einen Mann begleitet, spielt für ihn keine Rolle. Manche Menschen wünschen sich einen religiös orientierten Begleiter. Ein aktuelles Thema der Hospizbewegung ist die Ausbildung mit Hospizbegleiterinnen und Hospizbegleitern mit Migrationshintergrund.
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Wie möchten Sie Ihr Leben bis zuletzt gestalten?
Wer halbwegs jung und gesund ist, denkt kaum ans Sterben. Doch das Nicht-dran-Denken kann zur Gewohnheit werden. Und plötzlich ist es doch soweit: Man selbst oder ein Angehöriger erfährt, dass die letzte Lebensphase angebrochen ist. Wann wir sterben, liegt kaum in unserer Hand. Wie wir sterben: Das können wir beeinflussen ...